Publikationsdruck und Konkurrenz
als Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit

Prof. Jürgen Renn ist Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und untersucht die Evolution des Wissens.
Prof. Joseph Vogl lehrt als Kultur- und Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht u. a. zu Wissensordnungen und Medientheorie.

Vogl: Wie bewerten Sie die politische Relevanz Ihrer Arbeit?

Renn: Die direkte politische Relevanz meiner Arbeit ist eher gering, da sich meine Forschung weniger mit Tagespolitik beschäftigt. Allerdings steht zunehmend das Thema des Anthropozäns im Vordergrund meiner Forschung und damit auch Fragen der Klimapolitik. Geisteswissenschaftliche Arbeit kann und sollte einen Verständnishintergrund für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen bieten. Ein Beispiel sind die historischen Erfahrungen mit Medienrevolutionen oder Energiewenden, die auch für die aktuellen Herausforderungen relevant sind.

Vogl:  Sollten die Geistes- und Kulturwissenschaften sich in aktuelle politische Debatten einmischen?

Renn: Unbedingt, aber weniger um sich auf eine politische Seite zu schlagen, sondern um ihr Wissen und Reflexionspotential einzubringen, z.B. das Wissen darum, dass Migration immer schon konstitutiv für die menschliche Gesellschaft und ihr Innovationspotenzial war und dass es Autochthonie nicht gibt.

Vogl: Inwieweit hat sich die Einheit von Forschung und Lehre durch die Universitätsreformen der letzten Jahre (z.B. Modularisierung von Studiengängen, Bachelor/Master) verbessert oder verschlechtert?

Renn: Sie hat sich verschlechtert, da sie die für mein Fach essentielle Bewegungsfreiheit zwischen den Disziplinen eingeschränkt und das Studium durch ECTS-Punkte, vorgeschriebene Module und Konzentration weiter verschult haben.

Vogl:  Welchen Einfluss hatte die so genannte ‚Exzellenz-Initiative‘ bzw. hat die ‚Exzellenz-Strategie‘ auf die Freiheit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler?

Renn: Sie hat temporäre Chancen interdisziplinärer Kooperation eröffnet und damit auch neue Freiheiten insbesondere auch für jüngere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschaffen. Was fehlt sind langfristige Perspektiven der Etablierung und Verstetigung der neu entstandenen Möglichkeiten und zwar sowohl im Hinblick auf die Stellensituation als auch auf die langfristige Fortführung innovativer Projekte.

Vogl:  Lange Zeit war die Publikation von Monographien eine ‚Königsdisziplin‘ in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Gilt dies noch (für Sie und allgemein)?

Renn: Monographien spielen immer noch eine wichtige Rolle als Referenzpunkte für die eigene Karriere, aber sie stehen zum Teil einer Wissensakkumulation im Wege, da sie wissenschaftliche Perspektiven vereinzeln und Kooperation nicht befördern. In meiner Arbeit stehen gemeinsame Publikationen von Arbeitsgruppen und zunehmend digitale Publikationen im Vordergrund. Für die letzteren fehlt es allerdings noch an geeigneten Publikationskanälen und Anerkennungsmechanismen. Das ist insbesondere für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler im Bereich der Digital Humanities ein Problem.

Vogl: Wie schätzen Sie die Rolle bzw. Relevanz der Geistes- und Kulturwissenschaften im Konzert der Disziplinen ein? Sehen Sie deren Repräsentation als angemessen, bedroht oder überschätzt?

Renn: Ich meine, dass die Geistes- und Kulturwissenschaften oft scholastische Tendenzen entwickeln und hinter ihrem Potential, übergreifende Reflexionen zu entfalten, zurückbleiben. Auch sind sie weit davon entfernt, die durch die neuen digitalen Möglichkeiten eröffneten Integrationschancen zu nutzen. Unter Integration verstehe ich hier die Möglichkeit, Einzelerkenntnisse, wie sie in den Geisteswissenschaften traditionell durch „Close Reading“ gewonnen werden, in ein größeres Gesamtbild einzuordnen, das erst mit Hilfe von „Distant Reading“, also der computergestützten Analyse von Massendaten, gewonnen werden kann. Erst auf diese Weise lassen sich langfristige Prozesse wie etwa die Dynamik der Wissensevolution nicht nur spekulativ, sondern empirisch untersuchen.

Vogl: Wie bewerten Sie das Verhältnis von gesetzlich garantierter Wissenschaftsfreiheit einerseits und deren Verwirklichung in konkreten – akademischen und außerakademischen – Arbeitsverhältnissen andererseits (Publikationsmöglichkeiten, öffentlichkeitswirksame Vermittlung, Marktbedingungen, kommerzielle Verwertbarkeit von Forschungsergebnissen, private und öffentliche Finanzierungsmöglichkeiten)?

Renn: Ich halte die Fragmentierung des akademischen Betriebs, die Konkurrenz um symbolisches Kapital und den damit einhergehenden Publikationsdruck für eine Bedrohung von Wissenschaftsfreiheit. Die Gefahr ist, dass entscheidende Probleme der Menschheit oder auch Innovationschancen, die erst aus einer Disziplinen übergreifenden Perspektive entstehen, aus dem Blickfeld spezialisierter Wissenschaft geraten können.

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